„Vater unser“ von Angela Lehner

TW: mentale Gesundheit, sexueller Missbrauch, Essstörung, Suizid, Tod, Trauma, Selbstverletzung, Gewalt, Kidnapping, problematische Familiendynamik.

Mit all diesen Problemfeldern wird der Leser in Eva Grubers Welt konfrontiert. Sie hält das instabile Gerüst dieser Welt zusammen – so zumindest ihr Glaube. Vielmehr untermauert sie das brüchige Fundament ihrer Familie jedoch mit Dynamitstangen. Als Leser schaut man ihr mal mit mehr, mal mit weniger Geduld zu und erwartet jeden Moment die unvermeidliche Detonation. Krampfhaft versucht sie Kontrolle über ihre Mitmenschen zu erlangen, v. a. über ihren Bruder Bernhard, den sie in einer psychiatrischen Klinik am Rande Wiens aufsucht, in der er sich aufgrund seines schlechten psychischen Zustands aufhält. Um ihr Ziel zu erreichen, schreckt sie auch vor haarsträubenden Lügen nicht zurück, die immer mehr mit ihrer Realität verschwimmen.
In „Vater unser“ erzählt Angela Lehner die Geschichte nach der Geschichte eines Elternpaares, das aufgrund eines vorherrschenden religiösen Dogmas ungelöste Konflikte immer unbewältigt lässt und so schädliche Bewältigungsmechanismen in seine Nachkommen praktisch implantiert. Als ihre Mutter das realisiert, ist es zu spät: Eva ist das Schaf im Wolfspelz. In einem Moment der Reflexion erfasst Eva ihren eigentlichen Kampf, der die episodenhafte Handlung fest in sich gefangen hält: „Das ist die größte Strafe. Dass ich jeden Moment meines Lebens mit mir selbst verbringen muss.“ Von ihrem unerfüllbaren Bedürfnis nach Sicherheit beherrscht bemerkt sie nicht, dass sie Bernhard das einzige nimmt, was ihm am Herzen liegt.
Ein kleiner Wehrmutstropfen bleibt die reduzierte Darstellung des therapeutischen Fachpersonals als quasi nutzlos, das aber der schonungslosen Handlung gänzlich unterworfen ist. Wir sind begeistert, wie Lehner diese Vielzahl komplexer und tabuisierter Themenbereiche in ihrem Debut bearbeitet und würden das Buch wieder in den Druck geben.

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